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Schieflage: Mehr Empfänger von Sozialleistungen - weniger Erwerbstätige

Dokument: Köln, 11.03.2008 12:12 Uhr (redaktion)

Das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Fürsorge ist in Deutschland in eine Schieflage geraten. So ist die Erwerbstätigenquote zwischen 1980 und 2006 von rund 70 auf 64 Prozent gesunken. Hingegen decken inzwischen fast 26 Prozent der 18- bis 64-Jährigen ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise mit staatlicher Hilfe.

Jeder vierte 18- bis 64-Jährige deckt inzwischen seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise mit staatlicher Hilfe – das ist die Bilanz des deutschen Sozialsystems von 1980 bis 2006. Gleichzeitig finanzieren – gemessen an der Bevölkerung – immer weniger Beschäftigte und Selbstständige immer mehr Empfänger von Arbeitslosengeld II, Bafögund Wohngeldbezieher. Bezieht man noch die Rentner mit ein, so ist die Quote der Leistungsempfänger fast ebenso hoch wie die der Erwerbstätigen. Das ist ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Soziale Umverteilung in Deutschland“.

Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft steht für das Versprechen, das sozial Erwünschte und wirtschaftlich Vernünftige in eine Balance zu bringen, die den Wohlstand aller mehrt – politisch eine Gratwanderung. Denn jede soziale Wohltat läuft Gefahr, die Arbeits- und Leistungsanreize zu schwächen. Die Relation zwischen Leistungsempfängern und Erwerbstätigen zeigt, wie es in Deutschland um eigene Verantwortung und staatliche Fürsorge bestellt ist. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat dafür in einer Studie die Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren von 1980 bis 2006 unter die Lupe genommen.

Grafik: Empfänger von Sozialleistungen
Grafik: Empfänger von Sozialleistungen


 

In 25 Jahren kletterte die Quote der Sozialleistungsempfänger um knapp 12 Punkte auf 25,7 Prozent, während die der Erwerbstätigen um nahezu 6 Punkte auf 63,7 Prozent absackte.


 

Das heißt: Inzwischen deckt jeder vierte 18- bis 64-Jährige seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise mit staatlicher Hilfe. Sozialleistungen umfassen in der IWStudie zum einen Unterstützungen aus der Sozialversicherung wie das Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld sowie Frührenten – also Leistungen, die an individuelle Beiträge gekoppelt sind. Zum anderen gehören auch beitragsunabhängige Transfers dazu. Darunter fallen die Sozial- und Arbeitslosenhilfe, jetzt Arbeitslosengeld II (ALG II) genannt, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, das Bafög und das Wohngeld. Die Entwicklungen im Einzelnen:

Sozialhilfe/Arbeitslosengeld II.
Im deutschen Sozialsystem gilt die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz, wenn alle sonstigen Einkommensquellen versiegen. Bis 2004 wurde sie als sogenannte Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) gezahlt; der Anteil ihrer Bezieher verdreifachte sich seit 1980 auf 3,3 Prozent. Die Empfänger erhielten die Zahlungen immer häufiger ergänzend zur Arbeitslosenhilfe oder zu ihrem Erwerbseinkommen – und das auf immer längere Zeit. Denn HLU gab es unabhängig davon, ob der Bezieher in der Lage war, einen Job auszuüben oder nicht.

Das änderte sich mit Hartz IV, als die Sozial- und Arbeitslosenhilfe zur Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammengelegt wurden: Seither erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige ALG II. Familienmitglieder, die keiner Beschäftigung nachgehen können sowie dauerhaft Erwerbsunfähige bekommen Sozialgeld oder die neue Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Arbeitslosenhilfe
Bis Ende 2004 war die Arbeitslosenhilfe ein Zwitter zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Sie wurde aus Steuern finanziert und einkommensgeprüft; das heißt, das übrige Einkommen durfte einen bestimmten Betrag nicht überschreiten. Die Höhe der Arbeitslosenhilfe orientierte sich aber auch am früheren Verdienst. Das jetzige Arbeitslosengeld II ist dagegen ein reiner Sozialtransfer, dessen Betrag nicht vom vorherigen Einkommen abhängt. Die Leistungen und Freibeträge liegen etwas über der bisherigen Sozialhilfe; dafür werden Partnereinkommen stärker angerechnet.

Neu in das Transfersystem Einzug gehalten hat auch das Prinzip „Fördern und Fordern“: Nur wer bereit ist, einen Job zu suchen und anzunehmen, hat einen Anspruch auf Hilfe. Wie viele Personen sich deshalb aus dem Hilfebezug zurückgezogen haben, ist unklar.


 

Schätzungsweise aber haben die Neuregelungen dazu geführt, dass am 1. Januar 2005 rund 71 Prozent der bisherigen Empfänger von Arbeitslosenhilfe ins ALG II gewechselt sind – einschließlich Angehöriger etwa 3 Millionen Menschen.


 

Ebenfalls an die Jobcenter verwiesen wurden die erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher sowie Arbeitslosenhilfeempfänger, die bisher aufstockend Wohngeld bezogen hatten – sie mussten jetzt die Erstattung ihrer Unterkunftskosten beim Jobcenter beantragen.


 

Insgesamt haben die Jobcenter im Jahr 2005 gut 5 Millionen ALG-II-Empfänger betreut – das waren fast 10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung.


 

Im Jahr 1980 lag die Arbeitslosenund Sozialhilfequote noch bei zusammen 1,4 Prozent.

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Diese Leistung hat im Jahr 2003 die Sozialhilfe für dauerhaft Erwerbsgeminderte und für Rentner ab 18 Jahren ersetzt und ein Stück entstigmatisiert. Kinder und Eltern werden nicht mehr für den Unterhalt der Betroffenen herangezogen. Rund 45 Prozent der 307.700 Empfänger waren 2006 jünger als 65 Jahre. Ihr Anteil an der erwerbsfähigen Bevölkerung hat sich seit Einführung der Grundsicherung von 0,3 auf 0,6 Prozent verdoppelt.
Bundesausbildungsförderung (Bafög)

Für Schüler gewährt der Staat diese Förderung heute als Zuschuss, für Studenten als Zuschuss und zinsloses Darlehen. Der Anspruch ist zwar einkommensabhängig, aber Kindergeld und Vermögen der Eltern und Empfänger werden nicht angerechnet. Dadurch kommen am häufigsten Kinder aus Mittelstandsfamilien in den Genuss der Förderung.


 

Das Gros der Eltern, deren Kinder Bafög bezog, verdiente im Jahr 2005 zwischen 25.000 und 50.000 Euro.


 

Gemessen an allen 18- bis 64-Jährigen erhielten zuletzt 1,6 Prozent diese Leistung – 1980 waren es noch 3,4 Prozent. Die Entwicklung der Bafögquote war dabei vor allem politisch gelenkt: Sie spiegelt weniger die Entwicklung der Schüler- und Studentenzahlen oder die Einkommensentwicklung wider als die Reformen und Reformpausen. So kletterte im Jahr 2001 der Anteil der Bafögempfänger an allen Erwerbsfähigen im Alter von 18 bis 64 Jahren wieder auf 1,2 Prozent. Grund war eine Ausweitung der Leistungen, nachdem Ende der neunziger Jahre die Quote mit 0,6 Prozent auf einen historischen Tiefstand gefallen war.

Grafik: Ansprüche auf Sozialleistungen
Grafik: Ansprüche auf Sozialleistungen

Wohngeld
Mieter, Haus- und Wohnungseigentümer erhalten einen Zuschuss zu ihren Wohnkosten, wenn diese ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit übersteigen. Dementsprechend ersetzt das Wohngeld nicht die volle Warmmiete, sondern einen Teil der Kaltmiete bis zu einer Obergrenze. Bei der Prüfung des Anspruchs werden nur die Nettoeinkommen der Haushaltsmitglieder berücksichtigt. Kindergeld und Vermögen der Empfänger bleiben außen vor.

Im Jahr 1980 bezogen gut 1 Prozent, im Jahr 2004 gut 3 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Wohngeld. Mit Hartz IV wurden ALG-II- und Empfänger von Grundsicherung nicht mehr wohngeldberechtigt, sodass die Quote bis 2006 um 2 Prozentpunkte zurückging. Allerdings stehen nach Beschlüssen der Regierung beträchtliche Leistungsausweitungen an.

Insgesamt betrachtet beziehen im Vergleich zu 1980 jetzt mehr Menschen Transfers:


 

Vor 28 Jahren musste der Staat an 6 Prozent der 18- bis 64-Jährigen derartige Zahlungen überweisen. Im Jahr 2006 galt das für 14,4 Prozent in den gleichen Altersgruppen.


 

Sozialversicherungsleistungen
Wie hoch der Anteil der Empfänger von beitragsabhängigen Lohnersatzleistungen ist, hängt im Wesentlichen vom Ausmaß der Arbeitslosigkeit und von der Politik ab. Deutlich zeigt sich das an der absinkenden Quote der Arbeitslosenund Kurzarbeitergeldempfänger von rund 4 Prozent im Jahr 2003 auf nunmehr 2,9 Prozent im Jahr 2006: Der Wirtschaftsaufschwung hielt Einzug und die Hartz-Reformen trugen erste Früchte. Das gleiche Zusammenspiel zeigt sich bei den Frührentnern. Der sogenannte Frührentnerberg war eine Folge der verschlechterten Erwerbschancen Älterer und der Frühverrentungspolitik, von der man erst Ende der neunziger Jahre Abstand nahm – mit dem Ergebnis, dass die Quote seit 2000 wieder sinkt.

Welche Belastungen die steigenden Empfängerzahlen für den Sozialstaat in der Zukunft bedeuten, wird noch deutlicher, wenn man dieselben Quoten für die Bevölkerung insgesamt berechnet – Rentner und Kinder also einbezieht.


 

Der Anteil der Leistungsempfänger an allen Bürgern ist dann im Zeitraum von 1980 bis 2006 um satte 15,7 Prozentpunkte auf 37,4 Prozent gestiegen – der Anteil der Erwerbstätigen aber um 2,7 Prozentpunkte auf 40,1 Prozent gesunken.


 

Somit sind die Gruppen der Leistungsempfänger und -zahler inzwischen nahezu gleich groß. Vor dem Hintergrund einer weiter schrumpfenden und alternden Gesellschaft heißt das, dass zum einen alles getan werden muss, damit möglichst viele Menschen erwerbstätig sind. Zum anderen müssen aber auch die Leistungsempfänger mehr gefordert werden.

Quelle: IW Köln; Waltraut Peter "Die Entwicklung der Balance zwischen Erwerbstätigkeit und Sozialleistungsbezug in Deutschland"

 
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